Sagen aus Latsch von Hermann Lampacher
Joel von Obermontani
Am Eingang ins Martelltal, südöstlich von Morter, erhebt sich ein langgestreckter Moränenhügel, welcher vom Gletscher aus genanntem Tale im Laufe von Jahrtausenden aufgeschichtet wurde. Auf diesem Hügel stehen die beiden Ruinen Ober-und Untermontani. Auf Obermontani lebte einst ein Burgfräulein von bezaubernder Schönheit und sonderbarer Eigenart. Joel, die angebetete Tochter des Burgheren Martin Brandis, war deshalb der ängstlich behütete Schatz des Hauses und galt mehr als das Gold und die Edelsteine in den wohlverwahrten Truhen der Burg. Joel aber war abweisend, eitel und unbeherrscht seit ihrer Kindheit. Auf Untermontani hatte sie einen anmutigen Gespielen, die sie ob seiner Geduld und Anhänglichkeit oft aufsuchte. Sie plagte den gutmütigen Knaben Christoph oft so sehr, dass dieser öfters in Tränen ausbrach. Dann aber verwöhnte sie ihn wieder und versprach ihm die Heirat, sobald sie beide erwachsen wären. Zur schönen Jungfrau herangewachsen aber dacht sie nicht mehr an ihr Versprechen. Sie gebärdete sich Christoph gegenüber stolz, abweisend und unnahbar. Er entbrannte dadurch noch leidenschaftlicher in Liebe zu ihr. Joel dachte gar nicht daran, ihn zu den vielen Festen auf Obermontani einzuladen, da Untermontani ja nur eine Kleinburg und sein Besitzer nur ein unbedeutender und bescheidener Ritter war. Diese Geringschätzung aber kränkte den gutmütigen Christoph tief. Er wurde hart und verschlossen, aber er vernahm, dass sich Joel mit einem reichen und vornehmen Ritter verlobt habe. Tagelang verbarg er sich, und seine einst so gütig blickenden Augen nahmen einen Ausruck an, vor dem man sich fürchten musste. Eines Tages nun begegneten sich Joel und Christoph am Abhang des Burghügels hinter der kleinen Kapelle mit den wunderbaren alten Fresken, gerade dort, wo sich der Hügel steil dem Abgrunde zuneigt. Joel war nicht wohl dabei, Christoph so ganz allein an diesem Orte zu begegnen. Auch er erschrak sie über sein verwirrtes Aussehen und wollte sich eiligst entfernen. Da ergriff Christoph ihre Hand und redete flehend auf sie ein. Die Stolze aber hatte fü ihn nur Worte des Hohnes und der Verspottung.ö Inzwischen war sie in ihrer Abneigung und Angst vor seiner Wildheit dem Abgrunde immer näher gekommen. In seiner Verzweiflung versetzte ihr Christoph einen Stoß, sodass sie über die steilen Felswand in den Abgrund stürzte, wo sie leblos liegen blieb. Die Blumen am Abhang weinten, die Elfen und Spukgeister aber gönnten dem herzlosen Menscenkinde dieses schreckliche Ende. Christoph von Untermontani verschwand darauf aus der gegend und irrte ruhelos in der Welt herum. Niemadn hat ihn mehr gesehe, niemand konnte in Erfahrung bringen, wohin er sich begeben hatte und wo sich der Verzweifelte aufhielt.